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Ethnologie

Aufbruch im Siebenstromland

Marktwirtschaft statt Sozialismus: Im boomenden Siebenstromgebiet Kasachstans untersucht Ethnologe Peter Finke, wie sich neue soziale Strukturen und Besitzverhältnisse in einem Umfeld von Rechtsunsicherheit und Vertrauensverlust etablieren.
Stefan Stöcklin
Strassenszene in Taldyqorgan, Kasachstan (Bild: zVg)

Eine der exotischeren Aussenstellen der UZH befindet sich in Taldyqorgan im Südosten Kasachstans. In dieser Stadt unweit der chinesischen Grenze eröffnete Peter Finke im Herbst 2022 das Center for Eurasian Studies. Genau genommen handelt es sich um ein Büro an der Zhetisu-Universität, einem wichtigen Projektpartner des erfahrenen Ethnologen, der seit über 30 Jahren in Zentralasien arbeitet. Viele Jahre verbrachte Finke in den Weiten der mongolischen Steppen, nun hat er sein Augenmerk auf das südliche Nachbarland – genauer das Siebenstromgebiet Kasachstans – gerichtet.

Wie unter einem Brennglas

Die Region trägt den Namen aufgrund der Flüsse, welche die Ebene durchziehen und die Basis einer prosperierenden Landwirtschaft bilden. Hier, am Rande Kasachstans, das 65-mal grösser ist als die Schweiz, lässt sich vortrefflich studieren, was passiert, wenn das bestehende System implodiert und die Marktwirtschaft Einzug hält. «Wie unter einem Brennglas können wir hier verfolgen, wie sich neue soziale Strukturen, Besitzverhältnisse und Handelsstrukturen etablieren, wenn sich die gesellschaftlichen Bedingungen verändern», sagt Finke. Besonders interessiert ihn in diesem Verbundprojekt mit europäischen Partneruniversitäten, wie die Menschen unter «unsicheren Verhältnissen» mit Vertrauensverlust und Rechtsunsicherheit umgehen.

Vom Desaster zum Boom

Kasachstan hat wie andere Länder Zentralasiens turbulente Zeiten hinter sich. Zunächst eine Republik der Sowjetunion, wurde es 1991 unabhängig. «Der Übergang zur Marktwirtschaft war wie überall in der Region ein Desaster», sagt Finke, der das Land schon damals besucht hat. Die von den Sowjets aufgebauten landwirtschaftlichen und industriellen Strukturen brachen sprichwörtlich auseinander, die Inflation grassierte, die Bevölkerung verarmte. Die dort lebenden Russen und andere Europäer emigrierten zurück in ihre Heimatländer. Von einem Tag auf den anderen galt nicht mehr, was während Jahrzehnten Gültigkeit hatte – auch wenn die Planwirtschaft nicht für wirtschaftliche Prosperität gesorgt hatte, so brachte sie doch eine gewisse Stabilität und eine zwar autoritäre, aber klare Ordnung.

Umgang mit neuen Möglichkeiten

Erst nach und nach erholte sich Kasachstan von dem Schock der Auflösung und ab 2005 erlebte das Land einen ersten wirtschaftlichen Boom. Angetrieben wurde der Aufschwung durch die gewaltigen Erdölreserven am Kaspischen Meer, die mithilfe westlicher Erdölfirmen erschlossen wurden. Devisen flossen ins Land, die Infrastruktur wurde ausgebaut, manche Städte prosperierten, viele der in der Diaspora lebenden Kasachen kehrten zurück.

Unterdessen ist Kasachstan ein «moderat wohlhabendes» Land, wie Finke sagt, trotz Ukrainekrise und hoher Inflation. «Was mich umtreibt, ist die Frage, was passiert eigentlich in einer Boom-Region wie dem Siebenstromland?» Es sind für einmal nicht Verarmung und Prekaritäten, die den Ethnologen interessieren, sondern wie Menschen mit den neuen Möglichkeiten im ländlichen Raum umgehen. Konkret untersuchen die Mitarbeiter:innen Finkes in Zusammenarbeit mit Kolleg:innen der Zhetisu-Universität in einem Distrikt von zehn Gemeinden, wie die Menschen neue landwirtschaftliche Strukturen aufbauen, wie sie die Landverteilung organisieren, wie sie an Kredite kommen, welche informellen Netzwerke sie nutzen – kurz, mit welchen Chancen und Schwierigkeiten sie bei ihren wirtschaftlichen Tätigkeiten konfrontiert werden.

Peter Finke in seinem Büro an der UZH (Bild: zVg)

Das Projekt tönt unspektakulär, ist aufgrund der historischen Situation und der gesellschaftlichen Verhältnisse aber hochinteressant, wie Finke ausführt. Was den Landbesitz betrifft, so muss man sich vor Augen halten, dass Kasachstan einstiges Nomadenland ist, dessen Boden nicht als Privateigentum gehandelt wird. Während der Sowjetzeit verteilte man Bodenrechte an die gemeinschaftlich bewirtschafteten Kolchosen. Nach dem Zusammenbruch wurde nutzbares Ackerland in kleinen Parzellen von ein bis zwei Hektar pro Person an die Bevölkerung vergeben. Eigentumsrechte an Land gibt es aber bis heute nicht, sondern lediglich langfristige Pachtverträge. Wer nun in grösserem Stil in die landwirtschaftliche Produktion einsteigen will, muss sich die notwendigen Flächen von rund 10 bis 50 Hektar von anderen Familien im Dorf ergattern. Erst dann lohnt es sich, Cash-Crops für den Markt wie Zuckerüben, Luzerne oder Klee zu produzieren. Angesichts der chinesischen Nachfrage ist auch der Anbau von Soja beliebt.

«Aufgrund der unsicheren Rechtssituation ist der Landerwerb aber mit beträchtlichen Risiken verbunden», sagt Finke. Wer weiss, ob der Pachtvertrag mit dem Nachbarn Bestand haben wird? Diese Unsicherheiten setzen sich fort bei der Kreditvergabe. Einerseits sind die Kredite teuer und schwer zu bekommen. Andererseits ist das Risiko hoch, dass sie unvermittelt gekündigt werden. «Unsichere Pachtverträge und Kredite sind die häufigsten Probleme, die von den Bewohner:innen in unseren Studien genannt wurden», sagt Finke. Zu kämpfen hatten die Landwirte in diesem Jahr zudem mit extremer Trockenheit und ausbleibenden Niederschlägen, die zu Ernteausfällen führten.

Dramatischer Verlust von Vertrauen

Zu den juristischen und klimatischen Unwägbarkeiten kommt die gefühlte Unsicherheit in der Gesellschaft. Seit dem Niedergang des sowjetischen Staates ist nicht nur das politische, sondern auch das soziale System geschwächt. Am Wiederaufbau informeller Regeln, welche die Beziehungen der Leute untereinander bestimmen, arbeite sich die kasachische Gesellschaft noch heute ab, so Finke. Zwar will kaum jemand zurück zum Sowjetstaat, doch die fehlenden Fixpunkte machen den Leuten zu schaffen. Dies betrifft ganz besonders die geschäftlichen Beziehungen und die Art und Weise der Kooperation. «Wir stellen eine allgemeine Verunsicherung fest», so der Forscher. In einer Gesellschaft, in der die sozialen Unterschiede aufgrund des wirtschaftlichen Booms zunehmen, hat diese Verunsicherung einen Vertrauensverlust der Leute untereinander zur Folge. Das erschwert kooperatives Verhalten. «Welche sozialen Regeln bei geschäftlichen Transaktionen gelten sollen, ist häufig unklar», sagt der Ethnologe. Kann ich dem Nachbarn vertrauen? Unterstützt der Cousin die Anliegen der Familie? So ist durch die fehlenden Netzwerke ein Vakuum entstanden, das noch nicht ersetzt werden konnte und das die wirtschaftliche Entwicklung hemmt.

Finke_Quote

Wenn ich auf dem Feld mitarbeite oder an Dorfversammlungen teilnehme, erfahre ich hundertmal mehr über die sozialen Beziehungen und Alltagssorgen der Leute, als wenn ich sie dazu befrage.

Peter Finke
Ethnologe

Reichtum zeigen

Sichtbares Zeichen der schwierigen und komplexen Entwicklung ist ein weiteres Phänomen, das sich in vielen Gebieten ehemaliger sozialistischer Länder zeigt, die einen gewissen Wohlstand erreicht haben: die Zurschaustellung des Reichtums. Wer es geschafft hat, will es auch zeigen – sei es mit prunkvollen Häusern oder opulenten Festen. So werden bei Hochzeiten in der Regel mehrere hundert Gäste eingeladen und die Feste dauern mitunter Tage. Verpflegt werden die Gäste mit Unmengen von Fleisch, Ausdruck von Wohlstand.

Peter Finke hat sich im Laufe seiner ausgedehnten Feldarbeiten in Zentralasien einer Arbeitsweise bedient, die als «teilnehmende Beobachtung» bezeichnet wird: «Wir hören uns nicht nur an, was die Menschen auf unsere Fragen antworten, sondern involvieren uns soweit möglich in ihren Alltag.» Das heisst, die Forschenden versuchen bei den Verhandlungen über Landverträge dabei zu sein, helfen bei der Aussaat oder der Ernte, begleiten die Leute auf den Markt. «Wenn ich auf dem Feld mitarbeite oder an Dorfversammlungen teilnehme, erfahre ich hundertmal mehr über die sozialen Beziehungen und Alltagssorgen der Leute, als wenn ich sie dazu befrage», so Finke. Denn die Menschen verhalten sich oft nicht so, wie sie dies in formellen Gesprächen beschreiben.

Gemeinsam Zeit verbringen

Voraussetzung dieser Art von Recherche ist, dass man viel Zeit mit den Menschen teilt und sozusagen Teil der Familie wird. Dazu braucht es Kenntnisse der lokalen Sprachen. Der gelernte Turkologe spricht fünf Sprachen fliessend, nebst Deutsch und Englisch, Türkisch, Kasachisch und Mongolisch sowie ein wenig Russisch und er hat Grundkenntnisse verschiedener anderer Turksprachen. Im Lauf der Jahre hat Finke so einiges über die Lebensweise und Mentalität der Leute in den Weiten Zentralasiens erfahren. Er erinnert sich an Diskussionen über die beste Art der Fortbewegung – Pferd oder Motorrad. Einheimische erklärten ihm die Vorzüge des Tiers so: Es sorge erstens selbst für sein Benzin, d.h. eine Weide – und finde zweitens im Notfall immer zurück nach Hause. Was Finke veranlasste, reiten zu lernen. Heutzutage hat der Ethnologe allerdings nur noch beschränkt Zeit für diese Art der eingebetteten Beobachtung. Einen oder zwei Monate im Sommer kann er für die Arbeiten am Projekt in Kasachstan investieren, dafür sind zwei Postdocs und lokale Kooperationspartner längere Zeit vor Ort und treiben die Recherchen voran. Unspektakulärer Ausgangspunkt dazu ist das Büro der Zhetisu-Universität.

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