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Pädiatrie

«Dem Kind Vertrauen schenken»

Immer mehr Eltern sind verunsichert, ob sich ihr Kind «normal» entwickelt. Wie diese Verunsicherung entsteht und wie man den Eltern ihre Sorgen nehmen kann, erläuterte der Entwicklungspädiater Oskar Jenni an einem Vortrag in der Veranstaltungsreihe «Wissen-schaf(f)t Wissen».
Sabina Huber-Reggi
Wie entwickeln sich Kinder? Der Pädiater Oskar Jenni (rechts) untersucht diese Frage in einer Langzeitstudie am Kinderspital Zürich.

Von der Geburt bis ins Erwachsenenalter werden Kinder heute mit grosser Aufmerksamkeit von den Eltern beobachtet und untereinander verglichen. Ist es normal, dass mein Kind noch nicht spricht, noch nicht läuft? Ist es in Ordnung, wenn es einen grossen Bewegungsdrang hat und im Kindergarten nicht still sitzen kann?

«Warum stellen wir uns heute überhaupt die Frage, ob sich ein Kind normal entwickelt?», stellte Professor Oskar Jenni, Kinderarzt und Leiter der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich, bei seinem Referat Mitte November die Frage in den Raum: «Für unsere Eltern und Grosseltern stand diese Frage nicht im Vordergrund.» Damals war die Säuglings- und Kindersterblichkeit viel höher und Eltern sorgten sich vielmehr um die Gesundheit der Kinder.

Bildung ist gefragt

Die Sorge, ob das eigene Kind sich normal entwickeln würde, kam gemäss Jenni erst in den 1980er-Jahren auf. Damals hat man angefangen, Kinder nach Entwicklungsstörungen zu untersuchen. Die Gründe für diese neuen Sorgen der Eltern liegen gemäss Jenni in den grossen gesellschaftlichen Veränderungen der letzten 30 Jahre: «Wir sind heute eine Dienstleistungsgesellschaft und die Arbeitswelt befindet sich in einem fundamentalen Umbruch.»

Während viele traditionelle handwerkliche und kaufmännische Berufe immer mehr durch Automatisierung verdrängt würden, hätten digitalisierte Dienstleistungen an Bedeutung gewonnen. Diese moderne Berufswelt setze einen hohen Bildungsgrad voraus. Dadurch werde der Druck auf die Eltern verstärkt, ihr Kind «fit zu machen für die Wirtschaft, für das Leben». Hinzu komme, dass Familien heute kleiner sind – die Erwartungen an die einzelnen Kinder seien entsprechend grösser.

Jedes Kind ist anders

«Den Eltern kann geholfen werden, die Entwicklung der eigenen Kinder richtig einzuschätzen, indem man sie über die unglaublich grosse Variabilität der Kinderentwicklung aufklärt», sagte Jenni in seinem Referat. Seit 1954 wurde die Entwicklung von mehr als 800 gesunden Kindern von der Geburt bis zum Erwachsenenalter in den Zürcher Longitudinalstudien des Kinderspitals untersucht.

Remo Largo, Jennis Vorgänger als Leiter der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich, hatte die Erkenntnisse der Studie durch seine Bücher «Babyjahre» und «Kinderjahre» einem breiten Publikum bekannt gemacht. Oskar Jenni führt die Zürcher Studien fort: «Die Ergebnisse sind ein unglaublich grosser Schatz, der uns dabei hilft, abzuschätzen, was in der Entwicklung von einzelnen Kindern normal ist.»

Rutschen statt laufen

Dieses Verständnis sei vor allem wichtig, wenn die Entwicklung eines Kindes eher ungewöhnliche Bahnen nimmt. Jenni erläuterte dies anhand eines Beispiels aus seiner eigenen Familie. Eine kurze Filmsequenz aus Familienferien am Strand zeigt den 16-monatigen Sohn und dessen kuriose Fortbewegungsart: Statt zu krabbeln oder zu laufen, wie die meisten Kinder in seinem Alter, sitzt er im Sand und rutscht auf dem Hosenboden herum. Während man früher diese Fortbewegungsart als Entwicklungsstörung betrachtete, so weiss man heute dank der Zürcher Longitudinalstudien, dass 3 Prozent der gesunden Kinder diese Variante der motorischen Entwicklung zeigen, bevor sie meist erst mit 18 bis 20 Monaten laufen lernen. Jennis Sohn ist heute ein gesunder, normal entwickelter Jugendlicher, der jeweils an den Zürcher Sylvesterläufen in den vordersten Rängen mitläuft.

Wie Eltern helfen können

Aber auch wenn es keine Auffälligkeiten gibt, stellt sich vielen Eltern die Frage, wie sie die Entwicklung ihrer Kinder unterstützen können. «Das Kind muss dort abgeholt werden, wo es in seiner Entwicklung steht», erläuterte Jenni. Was er damit meint, zeigte er anhand eines Videobeispiels. Die 18 Monate alte Martina bekommt Bauwürfel und darf damit einen Turm bauen. Der Turmbau bereitet ihr grosse Freude und sie spielt hoch konzentriert. Danach wird sie aufgefordert, einen horizontalen Zug zu bauen. Das kann sie in ihrem jetzigen Entwicklungsstand noch nicht, insistieren hilft nicht. Nach kurzer Zeit ist ihre Spielfreude verdorben, sie wirft die Klötze umher und hört verstimmt auf zu spielen.

«Es muss eine Übereinstimmung geben zwischen den Erwartungen der Erwachsenen und den Eigenheiten und dem Entwicklungsstand des Kindes», erläuterte Jenni das Gesehene. «Wenn man das Kind überfordert, verweigert es das Spiel, wird trotzig oder zieht sich zurück». Wenn man hingegen das Kind gemäss seinem Entwicklungsstand fördert, dann erlebt es Erfolgserlebnisse und entwickelt ein gutes Selbstwertgefühl. Das «Abholen» des Kindes in seinem Entwicklungsstand sei jedoch nicht immer einfach, denn die Vielfalt unter Kindern sei so gross, dass Normvorstellungen der Gesellschaft vielen Kindern nicht gerecht werden können.

Vielfalt erkennen

«Diese Vielfalt sollten sich Eltern und Erzieher immer vor Augen halten», sagte Jenni. Viele Erziehungsratgeber vermittelten hingegen den Eindruck, dass bestimmte Methoden und Erziehungsstile die individuellen Entwicklungsunterschiede der Kinder ausgleichen könnten. «Dem ist nicht so», erläuterte der Referent. Es sei eher umgekehrt: Jedes Kind ist von Natur aus einzigartig. Ein bestimmtes Erziehungskonzept kann sich beim einen Kind als ideal bewähren, bei einem anderen aber nicht. Erziehung ist gemäss Jenni etwas sehr Individuelles – allgemeingültige Rezepte gibt es nicht.

Klar ist für ihn jedoch: «Eltern sollen dem Kind Vertrauen schenken.» Auch wenn die heutige Welt verunsichernd sei, wünscht sich der Entwicklungspädiater vor allem eines: eine gute Portion Gelassenheit im Umgang mit dem Kind. Man soll das Kind so annehmen, wie es ist und die eigenen Erwartungen und Wünsche wenn nötig anpassen. Erziehung geschehe nämlich nicht durch eine aktive Rolle der Eltern. «Kinder orientieren sich intuitiv an den Eltern –  wie sie leben, miteinander umgehen, streiten, essen und lieben. Seien wir Vorbilder für sie und schenken ihnen Vertrauen, dass es schon gut kommt», schloss Jenni.