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Dank besserer Lebensumstände und medizinischer Versorgung werden wir immer älter. «Jedes zweite Mädchen, das heute in der Schweiz geboren wird, wird seinen 100. Geburtstag erleben», erklärte Roger Nitsch in seinem Vortrag in der Veranstaltungsreihe «Wissen-schaf(f)t Wissen» des Zürcher Zentrums für Integrative Humanphysiologie (ZIHP). Derzeit sind ungefähr ein Drittel aller 85-jährigen von Alzheimer betroffen. Neben einigen genetischen Faktoren gilt das fortgeschrittene Alter als wichtigster Risikofaktor für die Entwicklung der Erkrankung. «An Alzheimer stirbt man nicht, aber man verliert die Persönlichkeit», sagte Roger Nitsch. Deswegen sei Ziel seiner Forschung, nicht die Lebenserwartung des Menschen zu erhöhen, sondern dessen Lebensqualität im Alter zu verbessern.
Alzheimer ist eine schleichende und fortschreitende Krankheit. Erste Krankheitszeichen können beispielsweise Orientierungsschwierigkeiten oder Wortfindungsstörungen sein. Diesen subtilen Anzeichen geht allerdings ein dramatischer Prozess voran, der sich im Gehirn der Patienten schon 10 bis 15 Jahre zuvor anbahnt. In den Nervenzellen des Gehirns sammeln sich Bruchstücke des APP-Proteins an, das wichtige physiologische Funktionen hat und in allen Menschen vorkommt. Die Bruchstücke, Beta-Amyloid genannt, sind hingegen toxisch. Ab einer gewissen Konzentration formen sie grössere Klumpen (Plaques), die dazu führen, dass Nervenzellen absterben. Letztendlich kommt es zu einem langsamen Schwinden der Gehirnmasse und damit zu Einbussen in der Funktion.
Trotz grosser Anstrengungen in der Forschung und vielen Erkenntnissen zu ihrer Entstehung bleibt die Krankheit bis heute unheilbar. Vor bald 20 Jahren sind Roger Nitsch und seine Kollegen bei einem Glas Rotwein auf eine neue Idee gekommen: Anstatt die Prozesse zu entschlüsseln, die den Menschen krank machen, wollten sie herausfinden, was nötig ist, damit ein Mensch gesund altert und nicht an Alzheimer erkrankt.
Es stellte sich heraus, dass 80 Prozent der gesunden alternden Personen Antikörper gegen die krankhaften Beta-Amyloid Klumpen produzieren. Dies bedeutet, dass das körpereigene Immunsystem die Klumpen, die wohl physiologisch bei den meisten Menschen im Alterungsprozess entstehen, durchaus erkennen und bekämpfen kann, ähnlich wie bei einer viralen oder bakteriellen Infektion. In Alzheimerpatienten sind diese Antikörper nur in geringer Zahl vorhanden, und das Immunsystem kann die schädlichen Klumpen nicht effektiv entfernen. «Diese Antikörper könnten eine therapeutische Wirkung bei Personen haben, die keine produzieren», erklärte Nitsch seine Idee.
In jahrelanger Forschung entschlüsselte das Team um Roger Nitsch die Struktur der Antikörper. Anschliessend wurden die Antikörper, «Aducanumab» benannt, erfolgreich im Labor nachgebildet und für eine erste klinische Studie an Alzheimer-Patienten verwendet. Ein Jahr lang wurden Patienten mit verschiedenen Konzentrationen der Antikörper behandelt. Die Reduktion der Klumpen im Gehirn wurde mithilfe der Positronen-Emission-Tomographie (PET) visualisiert. Die Wirkung war dosis- und zeitabhängig, wie sich zeigte. In Patienten, die mit der höchsten Dosis therapiert wurden, waren nach sechs Monaten deutlich weniger Klumpen sichtbar, nach 12 Monaten praktisch keine mehr nachweisbar. Die Therapie führte zudem zu einer deutlichen Verbesserung der alltagsrelevanten Fähigkeiten etwa betreffend Kommunikation oder Orientierung. Dies wurde mittels Befragungen der Patienten und deren Angehörigen überprüft.
Roger Nitsch führte die Studie mit der Universität Zürich, der spin-off Firma Neurimmune sowie gemeinsam mit Forschenden aus Cambridge und der Firma Biogen durch. Aktuell wird eine grössere Studie mit mehreren tausend Patienten durchgeführt, um die Sicherheit und Wirksamkeit von «Aducanumab» sicherzustellen – und letztlich die Marktzulassung zu erhalten. Die Zukunft wird zeigen, ob die vielversprechenden Resultate bestätigt werden.